Übersetzung des Buches "Papiers d´orange" von Pascal Pierrey





Orangenpapiere

von Pascal Pierrey

V OR W O R T

Sie hatte blondiertes, von Expertenhand zerzaustes Haar, leicht geöffnete, karminrote Lippen und trug einen grünen, wahrlich enganliegenden Pullover mit tiefem, atemberaubenden Ausschnitt, den sie kokett einladend und im richtigen Winkel präsentierte ....... Diese erste zufällige Begegnung vor der Auslage eines Lebensmittelhändlers war der Anfang einer unendlichen, faszinierenden und eigentlich lachhaften Sammelleidenschaft, dem Sammeln von Orangenpapieren.

Einmal glattgestrichenen und hingelegt hatte dieses „Pin-up-Girl“ auf Papier noch ganz andere Geheimnisse als eine bloße Fruchtverpackung, auch wenn sie noch so sinnlich war, es hätte vermuten lassen ....

Es war umrahmt von einer düsteren, dicken schwarzen Scheibe und es erschien eigentlich mehr an- als ausgezogen, wirkte zerbrechlich und verletzlich. Bei dem Versuch, seine Rundungen hervorzuheben, gelang dem anonymen Zeichner lediglich, den ohnehin schon etwas vulgären Eindruck zu verstärken, wobei der Druck und die Farbgebung dieser trivialen Arbeit noch eins draufsetzten. Betrachtet man heute diese aus ihren Ordnern herausquellende, wunderbare Sammlung bunter Papierchen, trifft man auf jenes gleiche, fröhliche, für jede Volkskunst typische Durcheinander, welches urplötzlich entsteht und den unterschiedlichsten Bedürfnissen Rechnung trägt.

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Von der Käseverpackung bis zum Weinetikett über die Einwickelpapiere für Zitrusfrüchte schöpft dieser Bilderbogen seine Ideen aus ebenso unterschiedlichen wie fantasievollen Quellen. Er ist für ein breites Publikum bestimmt und spiegelt ein durch sein Glauben, seine Träume und Hoffnungen naiv verzerrtes Umfeld.

Und das wundersame, von braven Lehrerinnen, herzzerreißenden Madonnen oder fiebernden Pflückerinnen umgebene Pin-up-Girl kommt nunmehr in einem großen Ordner mit allerlei exotischen Kreaturen, einschmeichelnden Geishas, bunten Indianerinnen, afrikanischen Königinnen und römischen Göttinnen; sie alle schmiegten sich einst an die Orangen wie eine zweite Haut.

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Die Orange überquert die Kontinente

Die runde, süß-saure, gelbe, orange oder blutrote Orangenfrucht, die auf beiden Erdhalbkugeln zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Breitengrad angepflanzt wird, gilt heute als das Sinnbild für Sonne, als Quelle für Energie, Ausgeglichenheit und Gesundheit. Und dabei liegt die Wiege der Zitrusfrüchte ziemlich weit von blauen Buchten entfernt und ist eher im Schatten von hohen Gebirgsketten angesiedelt!

Außer der Orange gibt es noch eine große Anzahl von mehr oder weniger bekannten und essbaren Zitrusfrüchten, dessen Bäume alle der Familie der Rautengewächse angehören. Der Orangenbaum, der Zitronenbaum und der Zitronatzitronenbaum sind auf natürliche Weise im Norden von Indien und an den südlichen Hängen des Himalayas erschienen. Ihr Anbau begann in Indien vor ungefähr dreitausend Jahren, zunächst in der Gegend von Pendjab, und erstreckte sich dann langsam über das gesamte Gebiet des Fernen Ostens. Der Mandarinenbaum hingegen stammt aus dem asiatischen Südosten, aus Indochina, Malaysia, den Philippinen; das Ursprungsland des Pampelmusenbaums ist die Halbinsel Indochina.

Fünfhundert Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung hat Konfuzius

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angeblich bereits die dem „Organon“ entsprechenden Qualitäten der Zitrusfrüchte gelobt. Aber was wird nicht alles diesem erstaunlichem Philosophen zugeordnet? ... Die ersten seriösen Bekundungen über den Orangenbaum scheinen chinesischer Herkunft zu sein. Ein Historiker der Han-Dynastie, Sema Kien, gibt demzufolge 200 Jahre v. JC. eine erstaunliche und sagenhafte Beschreibung der Provinz Setchuan, wo die Orangenbäume entlang des Jangtsé-Tals wachsen, was einer Entfernung von mehr als sechshundert Kilometern gleichkommt. Hingegen bleibt die Herkunft des Pomelo, oder Grapefruit, welche oft fälschlicherweise Pampelmuse genannt wird, rätselhaft. Es ist die Hybridpflanze aus Pampelmuse und Orange oder Mutante von der Pampelmuse und die einzige Zitrusfrucht, welche niemals im Fernen Osten zu finden war. Man begegnet ihr zum ersten Mal im Jahre 1814, auf einer Antillen-Insel in der Nähe von Jamaika, wo der Pampelmusenbaum von einem gewissen Kapitän Shaddock eingeführt worden war, welcher später in die Geschichte der britischen Antillen einging („Shaddock“ und „Pomelo“ sind heute Synonyme für dieselbe Frucht!).

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Antike Zitrusfrucht

Der lateinische Ursprung des Wortes Agrumen (acer heißt sauer, herb) weist auf den säuerlichen Geschmack der Zitronatzitrone, einer Art riesigen Zitrone mit sehr dicker Schale, von den Griechen besser bekannt als

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„Apfel von Media“, hin, welche Alexander der Große von seinen Expeditionen in die entfernten Gebiete des Persischen Reiches mitbrachte. Die Zitronatzitrone wird die einzige Zitrusfrucht bleiben, die in den Gärten Athens angepflanzt wird, wie auch später in denen Roms. Es vergehen mehrere Jahrhunderte bis die Zitrone und die Orange langsam Nordafrika, Sizilien und schließlich Spanien erobern. Die ersten im Westen bekannten Orangen sind die Pomeranzen (Bitterorangen) mit bitterem Fruchtfleisch, die im 10. Jahrhundert durch die Araber eingeführt wurden und von den Zitronen im 13. Jahrhundert abgelöst wurden. Ab 1332 wird der Hafen von Nizza sogar zum ersten Importeur von Bitterorangen. Der Orangenbaum mit süßeren Früchten soll zum ersten Mal in Asien durch einen Reisegefährten von Vasco da Gama gesichtet worden sein. Sein Anbau erfolgt in der Tat in Spanien

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und Italien ab dem Jahre 1523, einige Jahre nach der Entdeckung Amerikas. Bei den großen Weltmeerüberquerungen wurden ganze Schiffsmannschaften von einer schrecklichen Plage, dem Skorbut, dezimiert. Erst im Jahre 1753 entdeckt der britische Chirurg James Lind die Ursachen der Krankheit und ihre wirksamste Bekämpfung mit Vitamin C. Jedoch müssen noch einige Jahrzehnte vergehen bis der Genuss der extrem Vitamin-C-haltigen Orangen und Zitronen auf allen Schiffen Pflicht wird, was auch den Anbau von Zitrusfrüchten auf allen Kontinenten vorantreibt.

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Die Farbe der Orange

Zitrusfrüchte stammen eigentlich aus den heißen und im Sommer regenreichen Monsum-Ländern Asiens; die größten Produktions­länder von Zitrusfrüchten hingegen, angefangen von der Mittelmeerküste bis Kalifornien, von Südafrika bis Australien, haben ein völlig anderes Klima. Es erscheint zunächst widersprüchlich, dass die Verbreitung der Zitrusfrucht in diesen Gegenden ein solches Ausmaß erreicht hat, zumal die für die Orange fatale Frostgefahr dort im Winter nicht unerheblich ist; doch hierfür sprechen einige wirtschaftliche und ästhetische Gründe. Wenn eine Orange Ende des Herbstes kurz vor der Reife steht, gibt ihr die Kälte die schöne warme Farbe und nicht etwa die Sonne. Blutorangen z. B. reifen im Winter heran und kommen zwischen dem Ende des Winters und Mitte des Frühjahrs auf die Märkte. Die Orangen aus den tropischen Ländern hingegen behalten ihren gelblichen Teint, der auf unseren Märkten recht fad wirken würde.

Linke Seite: Ein Markt in Paris im Jahre 1919. Den Hausfrauen steht wieder eine große Auswahl zur Verfügung, vor allem an Orangen!

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König Orangenbaum

Zitrusfrüchte sind heute die meist angebauten und natürlich meist konsumierten Früchte der Welt, weit noch vor dem Apfel oder der Banane. Ihr weltweiter Ertrag ist ab Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich gestiegen und erreichte im Jahre 1986 mehr als 60 Millionen Tonnen, wovon allein auf die verschiedenen Orangensorten 40 Millionen entfallen.

Aber dieser ungewöhnliche Reichtum birgt natürlich auch Risiken und die Probleme aus dieser weltweiten Überproduktion geben allmählich Anlass zur Sorge. Einige Orangenhaine sind sogar aufgegeben worden und haben z.B. in Sizilien dazu geführt, dass ganze Wälder mit verwilderten Orangenbäumen entstanden sind.

Alle Zitrusfrüchte, sogar die süßesten,

Bild oben: Die Sonne, das bei Zitrusfruchtpapieren meistverwendete Symbol, hier ganz prächtig mit Gold- ornamenten.

Bild rechts: Einige historische und sehr romantische Motive.

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haben relativ wenig Kalorien, dafür aber viel Vitamin C und Mineralstoffe. Diese Eigenschaften entsprechen genau den neuen Ernährungsgewohnheiten westlicher Länder, welche immer mehr in Richtung einer schnellen und effektiven Nahrungsaufnahme tendieren. Die Obstanbauer der ganzen Welt suchen demzufolge ständig nach neuen Schöpfungen und verbesserten Kreuzungen,

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um ihren Verbrauch zu fördern. Die Schale lässt sich immer leichter schälen, das Fruchtfleisch ist weicher geworden und tropft nicht mehr, die Kerne verschwinden, die Geschmacksrichtungen werden immer vielfältiger, köstlicher und aromatischer.

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Die Geburt des Orangenpapiers

In Molières Theaterstück „Der Geizige“, verschluckt sich Harpagon fast, als er vom Kauf von „einigen Kisten Orangen aus China, süßen Zitronen und Marmeladen ...“ erfährt; denn der Kauf ging auf seine Rechnung. In England verleiht Shakespeare folgende Worte an Claudio, einer der Personen der Komödie „Viel Lärm um Nichts“: „Geben Sie Ihrem Freund nicht diese faulige Orange...“ In der Tat hat die Orange damals einen mittelmäßigen Ruf; nur langsam erhöht sich ihr Verbrauch ab dem 14. Jahrhundert im gesamten südlichen und westlichen Europa. Sie hat noch längst nicht alle Kreuzungen, Mutationen und andere Verbesserungsbemühungen kennen gelernt, welche zu der haltbaren und schmackhaften Frucht führen wird, die wir heute kennen; sie bleibt eine seltene, da sehr empfindliche Frucht. Kurz nach ihrer Ernte beginnt ein schneller Zersetzungsprozess, der durch eine Erschütterung oder Verletzung der Schale noch beschleunigt wird. Bis Anfang des XIX. Jahrhunderts wird diese Empfindlichkeit den für die meisten Menschen hohen und unerschwinglichen Preis rechtfertigen. Die größten Königshöfe werden sich sogar

Linke Seite: Auch wenn er aus Sizilien kommt erinnert dieser liebenswerte Panda natürlich an den asiatischen Ursprung der Zitrusfrüchte.

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Orangenhaine zulegen, eine Mode die es ermöglichen wird, das heikle Problem des Transports zwischen den oft sehr entlegenen Produktionsstätten und den feinsten Gourmet-Mündern zu umgehen.

Schutz und Tradition

Den Herstellern wird bewusst, dass nur ein effektiver Schutz während des Transports zu einer wirklichen Verbreitung und Erhöhung des Konsums von Orangen führen wird. Und so erscheint das Orangenpapier zum ersten Mal um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dieses erste Einwickelpapier ist ziemlich derb, oft rosa oder blau und noch nicht bedruckt. Diese „Erfindung“ kommt bei den europäischen Verbrauchern dermaßen gut an, dass einige Jahre später ebenfalls die Zitronen damit eingewickelt werden, die ja eigentlich durch ihre feste und dicke Schale ausreichend geschützt sind. Die Mode des Orangenpapiers steckt noch in den Kinderschuhen; jetzt fehlt nur noch der Druck...... Diese Neuheit führt Ende des 19. Jahrhunderts

Rechte Seite: : In manchen Kisten findet man auch Orangen, die mit bedruckter Silberfolie eingewickelt sind. Siehe auch das „Podium“-Papier auf S. 93.

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zu einem Ritual, das eng mit der Seltenheit der Orange verknüpft ist. In der Tat ist der Genuss von Orangen zu diesem Zeitpunkt immer noch so außergewöhnlich, dass die mittleren Schichten der Import-Länder und die unteren Schichten der Hersteller-Länder den Verbrauch auf Weihnachten beschränkten, also auf den Zeitpunkt, wenn die Orange reif wird. Man umwickelte

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die Orangen damals mit Silberpapier, mit handbemalten Papieren und sogar mit bestickten Stoffen, und so wurden sie zum strahlenden Symbol der Geburt Christi, des Weihnachtsfestes, dieses berühmten Abends, an dem die Heiligen Könige dem Stern folgten, und sich dann in die Wüste verirrten... Dieser Brauch besteht noch

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in einigen Häusern aus den romanischen Hersteller-Ländern wie Spanien oder Italien, wo die Orange immer noch als bescheidenes Weihnachtspräsent verschenkt wird, da die eigentlichen Geschenke erst viel später, zum Fest der Epiphanias (Heiligen Drei Könige) überreicht werden. Die Form und das Muster seiner Verpackung sind nach wie vor sehr individuell, aber leider nur noch sehr selten - eine Tradition, die immer mehr verschwindet.

Sicherlich liegt dieser dekorative Brauch den ersten Orangen­papieren zugrunde. Die ästhetische Wirkung wird umso bedeutender als die Zitrusfrüchte sowieso auch resistenter geworden sind und somit neue Märkte erobern können.

Die späteren Kreuzungen führen zu einer verbesserten Qualität der Orange; das Papier wird zu einem ganz eigenständigen zarten und wunderbaren Werbemittel,

Bild oben: Der geheimnisvolle „Mr. Pagoda“ gehört zu den wenigen Papieren, die über ihre Herkunft nichts preisgeben.

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und niemand erinnert sich mehr an den schützenden Zweck seiner Hülle.

Mode und Werbung

Man weiß nur wenig über die ersten bedruckten Orangenpapiere, außer dass sie mehr oder weniger gleichzeitig in Europa und Japan zwischen 1900 und 1910 aufgekommen sind. Während des Ersten Weltkrieges werden Orange und Orangenpapier wie die meisten Lebensmittel Opfer der Blockade. Nach dem Krieg steigt die Produktion und der Handel von Orangen wieder enorm an. Die Orange hat ihren Ruf als Luxus-Winterfrucht, die vorwiegend als Dessert konsumiert wird, verloren, und wird nun vor allem als Fruchtsaft von einem viel breiterem Publikum konsumiert. Die Steigen mit Zitrusfrüchten quellen über auf den Märkten,

Rechte Seite: Auch wenn die meisten Papiere nicht datiert sind, erlaubt diese Mickey Maus aufgrund der charakteristischen Grafik der Anfangszeit eine Datierung um 1928

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und die bedruckten Papiere fallen dort sehr auf. Die Einwickelpapiere werden von den Herstellern und Exporteuren vor Ort nach deren Vorstellungen oder eigenen Entwürfen bedruckt und dienen dazu, jede einzelne Ernte in einem ständig wachsenden Markt mit immer größer werdender Konkurrenz besonders hervorzuheben.

Diese neue Form der Werbung folgt jedoch nicht ganz den normalen Gesetzen der wirtschaftlichen Kommunikation und zeugt eher von einer liebenswerten Amateurhaftigkeit, die man heute noch vorfindet. Die ersten Orangenpapiere sind ganz und gar anonym ... . Kein Zeichen oder Handelsnummer des Druckers, kein Herstellungsjahr; oft fehlt sogar eigenartigerweise völlig der Namen des Herstellers, einer Kooperative oder eines Exporteurs, einer Stadt oder einer Produktionsgegend. Daher kommt es auch, dass sich Sammler über das genaue Ursprungsjahr der ersten bedruckten Orangenpapiere uneinig sind. Die Zeichnung muss ein starkes Bild herüberbringen, das oft überarbeitet und erneuert wird, um allein durch seine Wirkung den Kunden zum Kauf zu motivieren. Diese Art

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der Werbung liegt im krassen Widerspruch zu den ersten von anderen Firmen wie Banania oder Lu entwickelten Kommunikationstechniken, welche auf Vertrauen und Beständigkeit setzten, und erklärt die sehr große Bandbreite an Zeichnungen und Grafiken auf den Orangenpapieren. Da das verkaufte Produkt sich nicht verändert, übernimmt das Werbebild die Veränderung und verleitet immer wieder zum Kauf.

Das bedruckte Papier

Die Druckereien verwenden oft preiswerte Papiere wie das sehr dünne aber auch wenig resistente Durchschlagpapier, oder aber etwas edlere und festere Papiere wie das lichtundurchlässige und leicht glänzende Seidenpapier, das aus einer Mischung aus Holz und Lumpen besteht; sie wenden sich meistens an Amateurzeichner, die pro Arbeit bezahlt werden und nicht einmal ein „Copyright“ auf große, oftmals eine Million übersteigende Auflagen haben!

Die Drucktechniken haben sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts enorm verändert und werden immer vielseitiger. Chronologisch gesehen fing das Bedrucken der Orangenpapiere mit der Typochromie und deren Reliefdruck an,

Bild oben: Wie bei den Philatelisten sind Druckfehler bei einigen Sammlern von Orangenpapieren sehr beliebt.

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dann kam die Autotypie mit mehr oder weniger breitem Einschlag und mit blassen Farben, die Monochromie und die Quadrichromie, die Serigraphie, das Offset, der Tiefdruck und zuletzt der Gummidruck. Was uns heute eine sehr große Bandbreite in der Qualität der Drucke beschert: Bilder mit unglücklich verrutschten Farben, oder etwas sorgfältiger ausgearbeiteten Grafiken, die manchmal mit einer zusätzlichen Gold- oder Bronzeschicht aufgewertet sind.

International gesehen ist das Orangenpapier seit einigen Jahren

Linke Seite: Das Format 250 x 150 mm für kleine Orangen, hier einige Kreationen der Firma Fabbri, dem iberischen Druck-Giganten für Orangenpapiere

auf dem Rückzug, da es durch die wiederholt eingesetzten chemischen Fungizidbehandlungen gegen Parasiten und Viren und durch immer mechanischere Abläufe bei der Ernte nicht mehr unbedingt nötig ist. Nach der Ernte werden die Orangen geknetet, gewaschen,

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mit Fungiziden behandelt, sortiert, gespült, getrocknet, gebürstet, gewachst, nochmals der Größe nach sortiert, bevor sie in ihre jeweilige Kiste gelegt werden ...

Die Orangen werden nicht mehr wie vor dreißig Jahren systematisch eingewickelt; lediglich einige Früchte aus derselben Kiste, im Durchschnitt 15 Prozent, genießen immer noch dieses Privileg, mit einem bedruckten Papier eingewickelt zu werden. Die sehr großen automatisierten Plantagen haben

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weder Zeit noch Platz, Orangen in ein mit naiven und oft anachronistischen Bildern versehenes zartes Papierchen einzu­wickeln. Der Zeitgeist hat sich dem Ertrag verschrieben und das Papier von morgen, das sich bereits auf einigen Regalen befindet, sieht aus wie eine wärmeregulierende Plastikhülse! Orangenpapiere kommen nur noch von den bescheidensten Plantagen, die somit zu den Hüterinnen dieser wunderbaren Tradition geworden sind. Die Produzenten aus dem Mittelmeer-Gebiet wie Spanien und Italien gehören zu den dynamischsten unter ihnen. Die wichtigsten Anbau-Gebiete liegen in Amerika; an der Spitze stehen Brasilien, die USA und Mexiko. Dann die Mittelmeer-Regionen, von Spanien bis Israel durch alle Länder Nordafrikas, Länder in Asien schließlich mit China, Indien, Pakistan und sogar

Italienische Fauna gegen spanische Pik-Dame, welch ein Farb-Schock!

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Australien.

Aber jede Ernte ist nicht unbedingt zum Verkauf des unveränderten Produktes bestimmt und einige Länder haben sich auf die Herstellung von Orangensäften spezialisiert, oder auf die Ernte der Blätter, oder der Blüten, wie in Frankreich, wo die Orange immer dem Risiko ausgesetzt ist, bis zur Reife Frost abzukommen. Diese Unterschiede in der Behandlung der Orangen bestimmen die geographische Herkunft der Papiere. Die europäischen Länder z.B. aus der Mittelmeer-Region, die nicht weiter verarbeitete Orangen produzieren, haben eine regelrechte Industrie des Orangenpapiers vorangetrieben, wohingegen die Länder aus dem Norden Afrikas,

Aktuelle Themen und Ereignisse werden nur sehr selten für Orangenpapiere aufgegriffen. Dieses um 1969 entstandene Papier mit der Concorde als Motiv bildet da eine Ausnahme.

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die die Orange vorwiegend zu Saft verarbeiten - was auch für den Export praktischer ist - nur eine schwache Auswahl an grafischen Kreationen bieten. In Israel schließlich, dem Land wo die meisten genetischen Forschungen in der Landwirtschaft betrieben werden, existiert das Orangenpapier praktisch nicht mehr!

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Jäger der Orangenpapiere

Als die ersten Hersteller die Initiative ergriffen, ihre Früchte einzupacken und ein Markenimage draufzusetzen, vertrauten sie den Entwurf Amateurzeichnern an, die möglichst nahe am Produktionsort ansässig waren, und wandten sich an örtliche Druckereien.

Die Gestaltung dieser Bilderwelt gehört also eigentlich in ländliche Gebiete; sie ist dort meistens weit entfernt von den großen Zentren grafischer und kultureller Ideenvielfalt. Sie ist Teil einer ganzen Palette anderer volkstümlicher Ausdrucksmöglichkeiten, wie z.B. Illustrationen zu kommerziellen Zwecken, auf das simpelste reduzierte Werbebilder, die, wie Blaise Cendrars sie beschrieb, „ die Blume im Alltag, ein Zeichen für Optimismus und Fröhlichkeit“, sind.

Im Gegensatz zu anderen Sammlern, die einer Sammelleidenschaft mit „offiziellerem Charakter“ frönen - z. B. Briefmarken oder Münzen - kann sich der Orangenpapiersammler nicht auf irgendeine Liste oder einen Katalog berufen.

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Das spontane Auftauchen des Orangenpapiers und seine eher vom Zufall bestimmte grafische Entwicklung machen den ganzen Charme dieser Sammlung aus. Die neue Orange ist da!

Die Tatsache, dass man jederzeit Orangen essen kann deutet schon darauf hin, dass es eine Vielzahl von Orangenarten gibt. Man zählt fünf Sorten,

Die italienische „Mohren“-Serie, ein Muss für fast jeden Sammler, bei der die Vielfalt der Grafik und Kompositionen schier unendlich erscheint.

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wobei sich jede an die spezifischen Gegebenheiten des Klimas oder des Bodens angepasst hat und eine Sorte sich an die andere anschließt, so dass der Verbraucher rund ums Jahr versorgt ist. Die Navel-Orangen, aus dem Englischen „navel“ (Nabel), gehören zu der frühesten Sorte, sie reifen ab November bis zum Monat Mai. Dann folgen die gelben Orangen von Dezember bis März, die späten gelben Orangen von März bis Oktober und die Blutorangen von Dezember bis April. Wir reden hier erst gar nicht von der gemeinen Orange mit den beeindruckend vielen Kernen; sie hat praktisch keinen kommerziellen Nutzen mehr, es sei denn, sie kommt unverpackt und in großen Mengen als Sonderangebot auf den Markt, aber

Linke Seite: Wenn das Orangenpapier den Kunststoff entdeckt: Hier einige sehr schöne italienische Exemplare

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dann fehlt eben auch das Einwickelpapier. Die Navel-Orangen und die gelben Orangen werden am häufigsten in den Hersteller-Ländern angebaut, der Anbau von Blutorangen und Halbblutorangen erfordert jedoch eine gewisse Sorgfalt, was ihr Wachstum außerhalb der Produktionszeit erheblich einschränkt. Im Unterschied zu den Papieren der anderen Orangen, die sich durch ihre grafischen Kompositionen und ihre nationale Herkunft unterscheiden, wird auf den Einwickelpapieren der Blutorangen immer auf die Vielfalt der Früchte hingewiesen. Sanguinello, Moro, Maltaise, Tarocco, sie stellen heute die Aristokratie der Orangen dar, und die Papiere zeugen von diesem Prestige. Die uns bekanntesten stammen aus Italien,

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vor allem aus Sizilien.

Die günstigste Zeit für Sammler von Orangenpapieren liegt natürlich im Winter, wenn sich fast alle wichtigsten Zitrusfrucht-Sorten die Auslagen teilen. Lediglich die Zitronen verkaufen sich rund ums Jahr und fehlen nie, wobei das Angebot zwischen Juli und September etwas kleiner ist;

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die am meisten verbreitete Sorte trägt den Namen „Vierjahreszeiten-Zitrone“.

Der Sammler und der Einzelhändler

Die Orangenpapiere sind in den Auslagen der Händler und der Märkte als lustige, ansprechende Farbtupfer verteilt, aber sie fallen nur wenigen Leuten auf. Sogar die Einzelhändler, denen sie ja wirklich tagtäglich in die Finger kommen, ignorieren sie oft verächtlich und entfernen sie systematisch von den einzelnen Früchten, wenn sie ihre Auslagen herrichten. So mancher Kunde vermutet sogar hinter diesen Papierchen irgendein Makel, Flecken oder eine faule Stelle .... und, sobald er zuhause angekommen ist, reißt er sie automatisch herunter, es sei denn, irgendein Kind findet Spaß daran,

Eher für Kinder gedacht: Diese zwei „Kings sind populäre und bekannte Motive auf Orangenpapieren.

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die vier Ecken des Papierchens zu drehen und damit „Schildkröte“ zu spielen! Nur der Papiersammler ist sich bewusst, dass es sich um einen wertvollen Schatz handelt.

Im Naturzustand ist dieses Papierchen völlig untrennbar von dem Produkt, das es einwickelt, der Orange. Mit anderen Worten, auch wenn es völlig legitim für den Händler ist, seine Orangen ohne Papier zu verkaufen, ist es ihm hingegen verboten, das Papier ohne Orange zu veräußern. Die Beziehungen zwischen dem Händler, der nur seine schönen Orangen verkaufen will, und dem Sammler, der nur die prächtigen Einwickelpapiere im Auge hat, sind daher erst mal konfliktträchtig.

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Der aufgeklärte Sammler kann sich also, je nach Erziehung und Anstand, dreier verschiedener Methoden bedienen. Die erste Methode, genannt „kleiner Schlauberger“, besteht darin, das begehrte Papierchen diskret zu entfernen, wenn der Händler einem den Rücken kehrt... Die Methode „Schlingel“ ist eine Variante der ersten, und besteht darin, sich des Papierchens und dessen Inhalts zu ermächtigen .... Und schließlich die „Gentleman“- Methode, welche darin besteht, die Orangen nach ihrem Papier auszuwählen und dem Händler seine Leidenschaft anzuvertrauen; der wiederum wird sich ein Vergnügen daraus machen, Ihnen zukünftig diese schönen Papiere beiseite zu legen! Diese dritte Methode, welche natürlich eine gewisse Vorliebe für die Orange voraussetzt, als Frucht, als Saft oder auf sonstige Weise verarbeitet, ist bei weitem die empfehlenswerteste. Märkte sind und werden, solange sie bestehen, die unversiegbare Quelle der Sammler bleiben. Ein wahres Fest, zu dem die extravagantesten und die gewöhnlichsten Papiere geladen sind, bunte Farbtupfer, die entweder durcheinander auf dem Tisch liegen oder fein säuberlich

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von einem ordentlichen, beflissenen Händler aufgereiht wurden.

Supermärkte und große Verkaufsflächen haben in dieser Hinsicht weit weniger zu bieten, auch wenn es hin und wieder vorkommt, dass man dort ein oder zwei (selten mehr) Papiere findet, die ungewöhnlicher Herkunft sind, z.B. aus Südamerika.

Papiersalat

Das Orangenpapier stand Pate für eine Reihe von anderen Fruchtpapieren, die leider allzu oft nur Abklatsch ihres berühmten Vorbildes sind. Andere Zitrusfrüchte wie z.B. Mandarinen, Klementinen und Tangerinen begnügen sich

Unten: Zitrone und Orange der Marke Brio, dem Flagschiff der Zitrusfrüchte

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eines im Format kleineren Papiers und eines Logos, das mit dem der Orangenpapiere identisch ist, aber kleinere Ausmaße hat. Bei Zitronen findet man oft das gleiche Papier wie bei der Orange, wenn der Hersteller beide Früchte anbaut; daher kommt es, dass auf manchen Papieren beide Früchte dargestellt sind, oder eine ähnliche Grafik in zwei Versionen vorkommt, eine für jede Fruchtsorte.

Der Sammler findet gerade beim Einwickelpapier für Zitronen

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eine große Auswahl an originellen, durchaus interessanten Mustern und Grafiken. Bei Pampelmusen ist das leider nicht der Fall, sie sind oft zu groß um eingewickelt zu werden, und die wenigen Papiere die auf ihre Größe passen, sind, bis auf wenige Ausnahmen, von minderer Qualität, sowohl was das Papier als auch die Grafik betrifft. Die anderen Fruchtsorten werden nicht so systematisch wie die Orange eingewickelt, aber ihre Papiere weisen manchmal interessante Kuriositäten auf: man findet alles, Einwickelpapiere von rumänischen und tschechoslowakischen Kakis, von chinesischen Äpfeln, französischen Birnen, amerikanischen Trauben, japanischen Kirschen ... Fanatische Sammler

Links: Chinesisches Birnenpapier, welches in großen Asien-Märkten in Paris zu finden ist.

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werden vielleicht bei ihren Entdeckungsreisen neue Grenzen ziehen müssen.

Tourismus und Sammelleidenschaft

Frankreich und Deutschland sind die beiden größten Importeure von Orangen; absolut gesehen macht das mehr als ein Viertel der weltweiten Importe aus. Da das Orangenpapier meistens für den Export bestimmt ist, könnte man meinen, dass man die größte Auswahl an Orangenpapieren in Frankreich oder Deutschland findet. .... Das stimmt aber nur zum Teil. Die große Mehrheit der auf französischen Märkten entdeckten Orangenpapiere stammen hauptsächlich aus Spanien, Italien oder Marokko, selten auch aus anderen Ländern. Wer nach Einwickelpapieren sucht, die von weiter her kommen, muss sich in Kontakt setzen mit Menschen, die in weiteren Herstellerländern leben, oder, ja warum nicht, eine Vergnügungsreise mit der Suche nach einem bestimmten Objekt verknüpfen. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden!

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Erstellen einer Sammlung

Eine Orangenpapiersammlung entspricht nicht immer der landläufigen Vorstellung von einer Sammlung; es ist in der Tat schwierig, eine Anordnung oder Klassifizierung vorzunehmen, da der Gegenstand so schlecht abgegrenzt ist. Wir werden dennoch versuchen, einige allgemeine Angaben zu machen, die dem Sammler bei seiner Suche und bei der Erstellung seiner Sammlung behilflich sein sollen.

Alte Papiere

Wie bei jeder anderen Sammlung auch sind die wichtigsten Kriterien, ob die Papiere „alt“ und „selten“ sind. Es ist illusorisch darauf zu hoffen, man könnte „zufällig“ auf seltene Orangenpapiere stoßen, dafür sind sie viel zu empfindlich. Sie stammen meistens aus alten Sammlungen, wenn diese von Generation zu Generation weitergegeben werden konnten. Pablo Picasso war ein großer Sammler von Orangenpapieren, es wäre sicher interessant zu erfahren, welches Schicksal dieser berühmten Sammlung in der Nachfolge beschieden war.

Um an alte Papiere zu kommen sind also die Möglichkeiten extrem reduziert und verlangen dem Sammler größte Ausdauer und Hartnäckigkeit ab;

Linke Seite: Die Orangen „Argos Frut“ sind griechischer Herkunft, das Papier wird in Italien bedruckt. Fortsetzung auf Seite 67 ......

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es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als sämtliche Floh-, Antiquariats- und Papiermärkte zu durchforsten. Ihr Erhaltungszustand ist leider sehr fragwürdig: sie werden häufig auf Karton geklebt (so wie es oft mit Reklame aus den 50-er und 60-er Jahren gemacht wurde) oder in eine Plastikhülle gesteckt, um dann zu einem absolut verbotenem Preis verkauft zu werden. Zudem ist es außerordentlich schwer, diese Orangenpapiere zu datieren und die Bezeichnung „alt“ ist nur schwer nachprüfbar,

Unten: Diese unschönen Flecken sind bei Orangenpapieren eine Plage. Sie entstehen durch die Säure der Früchte, bleiben in den ersten Monaten unsichtbar, oxydieren dann aber schnell und sind später nicht mehr zu entfernen.

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da so gut wie nie ein Herstellungsjahr auf dem Papier erscheint. Das Alter des Papiers kann auch nicht der Zeichnung entnommen werden, da der Name des Grafikers nie erscheint und der Stil der Grafik auch kein sicheres Kriterium zur Bestimmung des Datums ist.

Die behandelten Themen sind selten der Mode unterworfen und die gleiche Zeichnung wird manchmal zehn, zwanzig oder sogar dreißig Jahre nach ihrer ersten Verwendung wiederaufgelegt! Ein typisches Beispiel ist das spanische Papier der Marke „Nulexport“. Ursprünglich stellte die Grafik eine rote Feuerkugel dar, mit dem Logo der Marke in der Mitte, in der Farbe gelb. Die Grafik hat sich weiter entwickelt, indem sie zunächst die Farbe wechselte, und dann schwarz wurde. Anfangs noch sehr nüchtern, fand man sie vor einigen Jahren angereichert mit zwei Texten, welche die Qualität der Frucht preisen, dabei aber die Feuerkugel verdecken, die ja das Markenzeichen der Marke „Nulexport“ ist. Später wurde das Papier völlig verändert, die neue Grafik stellte die Karte Europas

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und der wichtigsten Exportgebiete dieser Orangen dar. Heute ist „Nulexport“ zu seinem ursprünglichen Design zurückgekommen, der einfachen Feuerkugel mit schwarzem Hintergrund.

Viele Orangenpapiere aus Spanien waren solchen Veränderungen unterworfen, die sich entweder in einer Abschwächung der dominanten Farben oder in einer radikalen Veränderung der Grafik über mehrere Dekaden hinweg äußern. Man kann sie manchmal aufgrund kleinster Veränderungen datieren, z. B. bei der eingetragenen Handelsnummer, dem Vornamen des Besitzers im Verlauf einer Familiengeneration, der grafischen Bezugnahme auf bestimmte Zeitabschnitte oder der Qualität des Druckes, wobei das Original manchmal verloren gegangen ist, also kopiert wurde, grob abgepaust oder direkt von einem Papier durch fotomechanische Druckformenherstellung wiederhergestellt wurde.

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Die Welt auf einem Tablett

Südeuropa:

Die europäischen Orangenpapiere sind in einer sehr großen Auswahl vorhanden und werden ständig erneuert. Man findet sie um das Mittelmeer herum, vor allem in Spanien und Italien, wo die ersten

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Orangenpapiere entstanden sind, wobei Griechenland stark seinen Nachbarn Italien nachahmt (manche griechischen Papiere werden sogar in Italien bedruckt) und die Türkei sich in der Art der Grafik und seines Papiers stark an die nordafrikanische Produktion hält. Die spanischen und italienischen Zitrusfruchtpapiere konkurrieren, was die Fantasie und die Vielfalt angeht, richtiggehend miteinander. Andererseits ist es sehr erstaunlich festzustellen, dass sich dieses Einwickelpapier so gut wie gar nicht in der Machart seiner Bilder weiterentwickelt hat. Von Anfang an wurden einige „stille“ Regeln auferlegt, welche heute noch von den meisten der Hersteller befolgt werden.

In Spanien z. B. verwenden Grafiker bis auf ein paar Ausnahmen die runde Form der Frucht, um Zeichnungen zu schaffen, die sich innerhalb eines Kreises befinden. Bei der Auswahl der Farben hält man sich trotz der Weiterentwicklung des Drucks an bestimmte

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primäre Farbrichtungen: rot, gelb, blau und schwarz. Die einfachsten der iberischen Einwickelpapiere stellen sogar einen simplen einfarbigen Kreis dar, in dem das Logo als Überblendung erscheint. Die Herstellung der italienische Papiere hält sich hingegen eher an das Bild, das wir manchmal mit diesem Land verbinden: ein fröhliches Durcheinander, das sich scheinbar an kein präzises Gebot hält,

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wenn es nicht das der Ästhetik und der Effizienz ist!

Lediglich die Orangenpapiere aus Sizilien stechen hervor durch die Beständigkeit ihrer Grafik und der gewollten Effekte. Im Übrigen bestimmt die ursprüngliche Produktion, welche ausschließlich aus Blutorangen besteht, die Unveränderlichkeit sowie die Dominanz der roten Farbe. Lediglich die Hintergründe wechseln und stellen eine gewisse Hierarchie innerhalb der Familie der Blutorangen her. Die Papiere der „Moro“-Orangen haben oft einen roten Hintergrund,

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die der Sanguinello einen kleinkarierten, rot-weißen Hintergrund... Die Bandbreite der behandelten Themen ist sehr groß, auch wenn sie sich an gewisse Rahmenvorgaben halten, haben oft aber nur entfernt mit der Frucht selbst zu tun.

Nordafrika:

Die Länder Nordafrikas, hauptsächlich Marokko, Algerien und Tunesien, haben Papiere entworfen, die, wenn sie auch nicht die fantasievollsten sind, doch durch ihre grafische und qualitative Beständigkeit bestechen. Zunächst einmal unterscheidet sich das verwendete Seidenpapier sehr von dem, das für die spanischen Orangen verwendet wird. Es ist glänzender, fast undurchlässig, hält Dehnungen ab - Stöße jedoch weniger - und gibt den Farben der bedruckten Motive ein unvergleichliches Relief und eine tolle Leuchtkraft. Dieses Papier hat auf vorteilhafte Weise, jedoch leider nicht vollständig das

Unten: Die „Sodea“-Orangen sind marokkanisch und das Papier wird in Italien bedruckt! Fortsetzung und Ende auf Seite 69

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in dieser Gegend verwendete Einwickelpapier ersetzt. Diese Änderung beim Papier hat auch eine Veränderung der Grafik mit sich gebracht. Bei den älteren Einwickelpapieren herrschte eine sparsame monochrome Farbgebung sowie ein auf ein Minimum beschränktes Logo vor, bei den neueren Papieren hingegen haben sich sehr viele Einflüsse durchgesetzt. Manchmal findet man hier den für die sizilianischen Papiere typischen rotweiß karierten Hintergrund sowie Goldapplizierungen, hinzu kommt ein und dasselbe Logo auf verschiedenen Farben,

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mehrere Formen und verschiedene grafische Ausführungen. In Marokko z. B., wo die Plantagen staatlich sind, haben die Einwickelpapiere etwas offiziellere Merkmale, welche sich durch ein gewisse Beständigkeit des Logos auf unterschiedlichen Hintergründen auszeichnen.

Südamerika:

Orangenpapiere aus Südamerika sind selten und stammen vorwiegend aus Argentinien oder Peru. Sie kommen zwar außerhalb der üblichen Orangenpapiersaison auf den Markt, bringen aber eigentlich wenig Interessantes oder Neues. In der Tat ist das Papier oft von schlechter Qualität und hat sogar manchmal überhaupt gar kein bedrucktes Motiv, außer vielleicht manchmal das schwache Logo eines Herstellers, das unendlich vervielfältigt wird, um einen monochromen breiten Hintergrund zu ergeben.

Natürlich lassen sich diese Papiere separat in eine Sammlung einordnen, womit ihre Andersartigkeit zu den anderen Papieren hervorgehoben wird. Während die meisten europäischen Papiere durch bunte Farbigkeit und eher wenig Text hervorstechen,

Dieses Mal sind die Zitronen aus Argentinien und das Papier ist in Spanien von Fabbri bedruckt worden.

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stehen auf den südamerikanischen Papieren eine ganze Reihe wichtiger Informationen wie Name, Adresse, Telefonnummer und Handelsregisternummer, und zwar sowohl des Herstellers als auch des Druckers.

USA:

Das nordamerikanische Papier ist praktisch verschwunden. Man findet noch einige Einwickelpapiere bei den Zitronen, wobei anzumerken ist, dass sie sehr nüchtern und meistens höchstens zweifarbig bedruckt sind; sie sind meilenweit von dem entfernt, was einmal in den USA die volkstümliche Kunst rund um den Orangen- und Obsthandel bis in die sechziger Jahre war. Das nordamerikanische Orangenpapier ist nur ein kleiner Teil in der ganzen Vermarktungsmaschinerie der Orangen. Außer dem Papier findet man auch noch wunderschön bedruckte Kartons, welche oft Vorlage für die Papiergrafiken und selbstklebende Etiketten auf den Kisten waren. Eine weitere Eigenheit des

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nordamerikanischen Papiers rührt von der Entwicklung und der Vielfalt der Obstkulturen in den meisten Plantagen. Nicht nur für die Orangen, sondern auch für zahlreiche andere Früchte, wie Äpfel, Birnen, Trauben wird eine Grafik entworfen... Die Orangenpapiere werden also zum Einwickelpapier im erweiterten Sinne, und die Grafiken stellen die gesamte Obstproduktion bildlich dar.

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Japan:

Wie in den meisten grafischen Industrien hat Japan eine sehr vielfältige und sich ständig weiterentwickelnde Papierproduktion geschaffen, die jedoch abseits der anderen ausländischen Produktionen steht.

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Das japanische Papier entspricht besonderen Bedürfnissen und erfüllt zwei wichtige Funktionen.

Zum einen soll die nationale Produktion gegenüber dem Import, vor allem aus den USA, hervorgehoben werden, zum anderen soll mit dem Verbraucher anhand einer dynamisch-grafischen Darstellung auf der Verpackung eine Art privilegierter Kommunikation hergestellt werden. So kann zum Beispiel innerhalb eines Jahres die Grafik eines Herstellers mehrmals wechseln, wobei immer etwas beibehalten wird, woran man das Produkt erkennt: Das Logo, eine Farbe und sehr oft auch ein Maskottchen. Leider verschwindet das Papier mehr und mehr und weicht einer Kunststoffverpackung. Australien:

Einer großer Teil der australischen Zitrusfrüchte verbleibt im Inland, da es zu Saft verarbeitet wird, und hat somit kein Einwickelpapier. Es gibt jedoch eine limitierte Anzahl von Papieren, die eher durch ihre Seltenheit

Unten: Etwas größenwahnsinnig mutet es schon an: Geoffrey „Jeftompson“ Thompson posiert für die Nachwelt. Nicht mal die Latinos hatten jemals dran gedacht.

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als durch die Dynamik ihrer Grafik auffallen, es ist jedoch ganz ungewöhnlich, ein australisches Orangenpapier auf dem französischen oder europäischen Markt zu finden.

Südafrika:

Für das südafrikanische Orangenpapier gilt das gleiche wie für das australische: Wenige oder gar keine Exporte der unverarbeiteten Frucht,

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schwache Herstellung von Orangenpapieren und wenig Grafik, wenn überhaupt vorhanden.

Aufbewahrung und Konservierung

Das die Orange umhüllende Papier ist sehr zart und den Dehnungen durch die runde oder ovale Form der Frucht ausgesetzt. Um ihm sein ursprüngliches, flaches Aussehen wiederzugeben, wird es wie zum Trocknen von Kräutern zwischen die Seiten eines Buches gelegt,

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wobei alle Falten und Veränderungen durch das Gewicht des Buches platt gedrückt werden. Diese Methode ist jedoch längst nicht perfekt, da die Grafik zerknittert und verzerrt wird. Die ideale und „wissenschaftliche“ Methode besteht darin, das Papier mit einer basischen Lösung zu benetzen, welche das neutrale PH des Papiers wiederherstellen soll. Tatsächlich ist das Papier im Kontakt mit den Früchten und den Fungiziden eher sauer geworden und die Farben haben sich verändert. Das feuchte Papier kann anschließend

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wie ein Kleidungsstück gebügelt werden; die Einstellung des Bügeleisens sollte auf „Seide“ stehen. Das Bügeln bringt jedoch auch einige Nachteile, z. B. gehen die feinen Vergoldungen verloren. Das Bügeln kann also durch ein etwas delikateres Pressen ersetzt werden, welches das Papier in der ursprünglichen Form wiederherstellt ohne es zu beschädigen. Einige Papiere sind durch Fungizide oder den Saft der Früchte verfleckt, und daher zu meiden. Mit der Zeit und durch Einwirkung von Sauerstoff verfärben sich diese Flecken dauerhaft!

Der Eiffelturm „Tana“ oder „Montana“, oder „Mariagas“ ist in Dutzenden von Beispielen vorhanden, mit verschiedenen Grafiken, Farben, Früchten und Größen des Eiffelturms

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Einmal glattgebügelt kommen diese Papiere zum Rest der Sammlung, in einen Ordner mit Kunststofffächern, der immer noch das Praktischste für Sammler darstellt, auch wenn die Maße von einigen Papieren weit über das klassische Format von 21 x 29,7 cm hinausragt. Es

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ermöglicht vor allem, wie auch immer die Methode der Klassifizierung sei, ohne große Schwierigkeiten neu hinzu­gekommene Papiere dazwischen zu ordnen. Einige Sammler lassen ihre schönsten Papiere einrahmen, und bedenken dabei nicht, dass der Farbglanz der Papiere unter der Lichteinwirkung leiden könnte. Andere wiederum bewahren sie in großformatigen Büchern auf, oder einfach ungeordnet und ohne jedes System...

Sammlungen einer Sammlung

Eine Sammlung von Orangenpapieren kann nach Land, Thema und nach einer ganz persönlichen und subjektiven Auswahl geordnet werden. Die volkstümliche aber auch kommerzielle Bilderwelt der Orangenpapiere hat von Anbeginn verschiedene grafische Strömungen integriert, wobei sie eine gewisse Distanz und Autonomie zu den verschiedenen Moderichtungen beibehalten hat. Die ersten bedruckten Papiere ließen sich weitgehend aber völlig ungezwungen vom damals sehr aktuellen „Art Nouveau“ beeinflussen

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und bedienten sich dabei einer symbolischen Ikonografie, die mit Arabesken und komplizierten Schriftzügen überladen war. Diese Papiere spiegelten oft das Geschick eines Zeichners wider, der seine Schwächen mit einer einfachen, aber wirkungsvollen Grafik überspielte. Seitdem hat die Bilderwelt der Orangenpapiere viele künstlerische Strömungen erlebt, die sie manchmal integriert, manchmal ignoriert hat, ohne sich jedoch jemals von ihren ursprünglichen Vorbildern abzuwenden. Die verschiedenen Sammler schätzen, dass seit Beginn des bedruckten Papiers zwischen dreihunderttausend und fünfhunderttausend verschiedene Grafik-Vorlagen entworfen wurden.

Einige Themen sind sehr verbreitet und typisch für eine bestimmte Produktion, wie z. B das der Afrikaner auf den italienischen und sizilianischen Papieren, oder, noch verbreiterter, die Darstellung der Früchte, Orangen und/oder Zitronen, realistisch oder stilisiert, manchmal sogar personifiziert in der Form eines Maskottchens.

Dieser ikonoklastische, angekettete Schwarze ist eine der höchst seltenen spanischen Beiträge zur berühmten italienischen „Mohren“-Reihe. Nebenan: Tim und Struppi, ein Muss für jeden Sammler.

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Um die ernährungsphysiologischen Eigenschaften der Zitrusfrüchte hervorzuheben, hat man bei den bedruckten Papieren ebenfalls auf eine familiäre und affektive Bilderwelt zurückgegriffen, so z. B. Szenen mit Kindern, Lehrerinnen, Tieren oder Comicfiguren. Einnehmend sind jedoch auch

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die vielen Papiere mit historischen Motiven berühmter oder exotischer Frauen, Bäuerinnen oder Pin-up-Girls. Aber es wird auch eine gewisse weibliche Klientel berücksichtigt, die zum Kauf animiert werden soll, indem eine ganze Reihe männlicher Pin-Ups wie Appolo, Eros und so weiter dargestellt wird.

Ein Thema für Sammlungen kann z. B. die Herkunft der Produkte sein, in Form von Sonne, Meer, Ferien, so wie die mediterranen Länder es auch gerne darstellen.... Andere Sammlungen konzentrieren sich mehr auf ein bestimmtes Land, einen bestimmten grafischen Stil, oder legen den Schwerpunkt auf die schönsten Grafiken.

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Rund ums Orangenpapier

Das Orangenpapier umhüllt die Frucht und stellt durch seine grafische Vielfalt ein sammlungswürdiges Objekt dar, andere Objekte rund um die Vermarktung der Zitrusfrüchte können jedoch ebenfalls die Aufmerksamkeit des Sammlers erregen. Das dem Orangenpapier nächste Objekt ist natürlich das selbstklebende Etikett, und zwar nicht durch seine Form,

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sondern durch seine Rolle als Werbeträger. Wie das Orangenpapier begleitet es die Frucht bis zum Tisch des Verbrauchers, aber auf viel systematischere Art und Weise. In der Tat zählt man in einer Orangenkiste mit 60 Orangen nur etwa im Durchschnitt 10 eingepackte Früchte, aber jede Frucht ist mit einer solchen Etikette beklebt. Diese Etiketten sind eher klein, oval im allgemeinen, aber auch rund, viereckig, oder rautenförmig, selten mal auch in der Form eines Orangenblattes und übernehmen oft die Grafik des Papiers, aber angepasst an ihre Größe und ihre Ausdrucksform. Auf den Etiketten findet man oft das Logo mit dem Herkunftsland und oft sogar die etwas veränderte, verbesserte oder meistens vereinfachte Grafik. Die anderen Werbeträger der Zitrusfrüchte werden direkt

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im Großhandel beigefügt, auf die Holz- oder Kartonkisten. So findet man wunderschöne Motive, welche direkt auf Holz oder auf große Etiketten gedruckt sind, breite Streifen auf Kartons, oder seltener, auf Stoff. Die erstaunlichste Produktion kommt zweifellos aus Nordamerika, wo diese Kunst sich sehr schnell zum Nachteil des Orangenpapiers entwickelt hat.

Bei einigen sehr bekannten oder auch etwas prestigeträchtigeren Zitrusmarken wie „Filosofo“ oder „Toi et moi“ werden sogar die verschiedenen Fruchtlagen innerhalb einer Kiste von einem großen Orangenpapier getrennt. Leider sind diese oft prächtig bedruckten

Linke Seite: Auch wenn sie relativ sperrig sind übernehmen die Orangenkisten auf prächtige Weise die Grafik der Einwickelpapiere. Unten: Die selbstklebenden Etiketten werden ebenfalls gesammelt. Etliche Hersteller verwenden seit einigen Jahren die Form des Orangenblattes.

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Papiere sehr selten und oft in einem desolaten Zustand.

Jeder einzelne dieser Werbeträger kann eine eigene Sammlung bilden oder eine Orangenpapiersammlung ergänzen.

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Wie wir schon festgestellt haben ist eine solche Sammlung vor allem aufgrund ihrer Grafik interessant, und so findet man dasselbe Bild auf verschiedenen Trägern und mit verschiedenen Drucktechniken dargestellt.

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Literaturhinweis

Orangenpapiere, Les Collections de l’Iconophile, Paris 1977, Léoréca editions (vergriffen).

Erstaunliches Werk mit sechsunddreißig alten Einwickelpapieren, die sehr selten jedoch undatiert sind, aus der Sammlung Maxime Vibert/Wahl, begleitet von einem kleinen lyrischen Text von Jacques Lacarrière, leider eher literarisch als informativ. Schwer aufzutreiben, da der Verleger völlig von der Bildfläche verschwunden ist!

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Japanese Wrappers, Tokyo, 1979. Das umfassendste Werk über Einwickelpapiere für Zitrusfrüchte befasst sich nur mit den japanischen Papieren... Wurde seit 1979 nicht mehr aufgelegt, und daher besonders schwierig zu erhalten, sogar in Japan.

Oranges & Lemons. Fruit Wrappers from the Victoria & Albert Museum, London, 1985 (vergriffen). Anlässlich einer Ausstellung alter Einwickelpapiere für Orangen und Zitronen hat das Victoria & Albert Museum in London dieses reizende kleine viereckige Handbuch herausgegeben; darin sind einundzwanzig Faksimile auf Seidenpapier reproduziert, undatiert. Noch erhältlich in der Museumsbibliothek, oder in bestimmten Bibliotheken, die sich auf Grafik und Design spezialisiert haben.

Werden die spanischen Orangenpapiere für die Olympischen Spiele 1992 sportliche Motive tragen? Vielleicht eine Serie mit dem Maskottchen „Cobi“ von Mariscal? Man wird ja noch ein bisschen träumen dürfen...

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